-
Armut bleibt hoch, aber Sachsens Armutsquote auf Tiefstand
Dresden, 11. April 2024 | (ks)
Ende März 2024 hat der Paritätische Gesamtverband in Berlin seinen aktuellen Armutsbericht 2024 vorgestellt. Die Armut in Deutschland verharrt auf hohem Niveau. Sie ist vor allem Einkommensarmut. Die betroffenen gesellschaftlichen Gruppen haben daher in den vergangenen zwei Jahren besonders unter den gestiegenen Verbraucherpreisen gelitten. Eine sozialpolitische Tatsache, vor der wir als Gesellschaft nicht die Augen verschließen dürfen. Denn Armut bedeutet Benachteiligung und soziale Ausgrenzung.
Vorab: Die Zahlen für Sachsen können als erfreulich interpretiert werden. Dieser Blog-Beitrag beschäftigt sich mit dem Thema Armut im Allgemeinen und geht auf die Ergebnisse des Berichtes im Besonderen mit dem Fokus auf Sachsen ein.
Eine Annäherung zum Thema Armut
Was ist Armut?
Um die Dimensionen von Armut verstehen zu können, muss man sich begrifflich mit dem Thema auseinandersetzen. "Armut ist immer eine Frage des wirtschaftlichen und sozialen Umfelds", sagt zum Beispiel der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Demzufolge gibt es keine starre allgemeingültige Definition von Armut.
Bei welchem Wert in Deutschland die Armutsschwelle liegt – und wie hoch damit die Armutsquote ist – hängt entscheidend von den verwendeten Daten ab. So arbeitet der Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes mit den Zahlen des Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes. Dieser ist die größte und seriöseste Sozialstatistik in Deutschland. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung arbeitet mit Zahlen auf Basis der Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen in Europa (EU-SILC). Anderweitig werden auch Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung verwendet. Dieses erhebt das Sozio-ökonomische Panel (SOEP).
Je nach verwendetem Zahlenmaterial ergeben sich daher etwas unterschiedliche Armutsschwellen und -quoten. So liegt der Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland netto (nach Steuern und Sozialabgaben) zwischen 1.186 Euro und 1.250 Euro im Monat. Wichtiger als die Schwankungen in den Zahlen ist die Frage, ob die Armut zunimmt oder abnimmt, also die Armutsentwicklung.
Formen von Armut
- Absolute Armut
Als absolut arm gilt ein Mensch, wenn er aus materiellen Gründen nicht einmal seine physischen also existenziellen Grundbedürfnisse befriedigen kann wie Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Grundversorgung. Nach der Definition der Weltbank sind Menschen extrem arm, wenn sie weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben. In Deutschland geht es bei Armutsgefährdung durch verschiedene soziale Leistungen in der Regel nicht um diese existenzielle Armut wie in den Entwicklungsländern. Dennoch kommt sie als extreme Unterversorgung aus unterschiedlichen Gründen vor. - Relative Armut
Anders als die absolute Armut bezieht sich die relative Armut auf soziale Ungleichheit. Ihr Auftreten ist an das Einkommen gekoppelt. Wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) der Gesamtbevölkerung verfügt, gilt als relativ arm. Hier spricht man vom sogenannten Schwellenwert der Armutsgefährdung. Nach der EU-Konvention zur Definition und Berechnung von Armut sind (relativ) arm alle, die über so geringe Mittel verfügen, „dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“. Für die relative Armutsbestimmung ist neben dem Einkommen die Haushaltsgröße ein weiterer Rechenfaktor, um Haushalte mit unterschiedlichen Personenzahlen miteinander vergleichen zu können. Das wird als „Äquivalenzeinkommen“ bezeichnet. In der Berichterstattung zum Thema Armut hat sich der Begriff der "relativen Armut" mittlerweile wissenschaftlich etabliert.
Ohne soziologisch in die Tiefe gehen zu wollen, scheint die relative Einkommensarmut mit einem Zustand verbunden zu sein, der auch als Mangelarmut bezeichnet werden kann. Dies bedeutet, dass jemand auf notwendige materielle Dinge verzichten muss, weil er oder sie nicht genug Geld hat, zum Beispiel für eine Waschmaschine.
- Gefühlte Armut
Gefühlte Armut wird nicht an Einkommensgrenzen gemessen. Sie entsteht aus einem persönlichen Empfinden, wenn sich Menschen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation sozial benachteiligt, stigmatisiert oder diskriminiert fühlen. Für die Betroffenen sind diese Gefühle neben den tatsächlichen Entbehrungen extrem belastend.
An dieser Stelle verweisen wir gern auf den interessanten Blogbeitrag der Lebensbrücke e. V. "Gefühlte Armut – mittellos, diskriminiert & stigmatisiert"
Ergebnisse des Armutsberichtes 2024
Wie viel Arme gibt es in Deutschland?
Der Verband bezieht sich in seiner Auswertung auf den Mikrozensus von 2022. Für 2023 liegen erst im kommenden Jahr belastbare Zahlen vor.
Laut Paritätischem Armutsbericht lebten im Jahr 2022 in Deutschland 14,2 Millionen Menschen in relativer Armut. Das sind 16,8 Prozent der Bevölkerung. Und damit 100.000 Menschen mehr als 2021 und fast eine Million mehr als im Vor-Pandemiejahr 2019, so der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands, Ulrich Schneider.
Im Vergleich zum Jahr 2021 ist die Armut um 0,1 Prozent zurückgegangen. Nach Einschätzung des Verbandes ist der Trend steigender Armut zwar vorerst gestoppt, aber nicht rückläufig. Auch mit den Zahlen für 2023 erwartet der Verband keine Trendwende. Der fast ungebrochene Trend zunehmender Armut in Deutschland begann im Jahr 2006.
Grafik: SV Sachsen
Armuts-Risikogruppen
- Alleinerziehende
- Haushalte mit drei und mehr Kindern
- Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen
- Menschen mit Migrationshintergrund
- Erwerbslose
- zunehmend Rentnerinnen und Rentner
Eine Anmerkung, um falschen Typisierungen vorzubeugen: Bei armen Menschen handelt es sich nicht ausschließlich um Alleinerziehende, Erwerbslose, Migranten oder Menschen mit schlechter/fehlender Ausbildung. Rund 60 Prozent der Armen haben ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau. Über 70 Prozent der Armen besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Über die Hälfte hat auch keinen Migrationshintergrund. Man dürfe auch nicht dem Trugschluss unterliegen, so Verbandspräsident Schneider, dass nur diejenigen, die nicht arbeiten, wenig zum Leben hätten.
Frauen weisen 2022 mit 17,8 Prozent eine deutlich höhere Armutsquote auf als Männer mit 15,8 Prozent. Besonders gravierend ist die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern bei älteren Personen ab 65 Jahren. Auch die Kinderarmut liegt auf einem erschreckend hohen Niveau: Deutlich mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf. Ebenso sind junge Erwachsene mit 25,2 Prozent stark betroffen. In diese Gruppe fallen auch die Auszubildenden und vor allem Studierende. Die Armut unter Selbstständigen ist nach einem deutlichen Anstieg während der Pandemie inzwischen wieder rückläufig.
Exkurs Altersarmut
Die Armutsquote unter Rentnern und Pensionären verblieb mit 18,1 Prozent annähernd bei dem sehr hohen Wert aus 2021. Beachtenswert zum Thema Altersarmut sind zwei Anmerkungen im Bericht des Verbandes
1. Erst seit 2014 entwickelt auch diese Gruppe ein immer stärker ausgeprägtes überdurchschnittliches Armutsrisiko.
2. Die Armutsquote der Rentner (Rente aus gesetzlicher Rentenversicherung) würde deutlich höher ausfallen, wenn die Quoten für Rentner und Pensionäre getrennt ausgewiesen würden. Das zeigen entsprechende Berechnungen des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2019. In diesem Jahr lag die gemeinsame Armutsquote von Rentnern und Pensionären bei 17,1 Prozent. Tatsächlich lag sie aber bei den Rentnern bei 20,7 Prozent und bei den Pensionären nur bei 1,1 Prozent.
1. Erst seit 2014 entwickelt auch diese Gruppe ein immer stärker ausgeprägtes überdurchschnittliches Armutsrisiko.
2. Die Armutsquote der Rentner (Rente aus gesetzlicher Rentenversicherung) würde deutlich höher ausfallen, wenn die Quoten für Rentner und Pensionäre getrennt ausgewiesen würden. Das zeigen entsprechende Berechnungen des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2019. In diesem Jahr lag die gemeinsame Armutsquote von Rentnern und Pensionären bei 17,1 Prozent. Tatsächlich lag sie aber bei den Rentnern bei 20,7 Prozent und bei den Pensionären nur bei 1,1 Prozent.
Relative Einkommensarmut führt somit nicht nur zu Kinderarmut in den betroffenen Haushalten, sondern auch unweigerlich zu Altersarmut. Denn selbst wer 45 Jahre in Vollzeit arbeitet, erwirbt bei einem durchgehend unterdurchschnittlichen Verdienst bis zum Renteneintritt nicht die 45 Rentenpunkte (Entgeltpunkte) des sogenannten Standardrentners.
Die Deutsche Rentenversicherung selbst weist darauf hin, Altersarmut zu vermeiden, indem man alle drei Säulen der Altersvorsorge nutzt. Also neben der gesetzlichen Rente auf betriebliche und private Vorsorge setzen. Wer monatlich knapp bei Kasse ist, schüttelt den Kopf und fragt sich, wo das Geld dafür herkommen soll. Bei der betrieblichen Altersvorsorge sind mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz zum einen die Arbeitgeber in der Pflicht, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim Aufbau einer Betriebsrente durch einen Zuschuss zu unterstützen. Bei der privaten Altersvorsorge spielt der Faktor Zeit eine Rolle. Auch kleine monatliche Beiträge summieren sich über Jahrzehnte und mit Hilfe des Zinseszinseffekts zu einer sinnvollen Zusatzrente. Hilfreich ist auch, staatliche Förderungen beim Rentensparen einzubeziehen wie zum Beispiel die Zulagen im Rahmen der Riester-Rente.
Einige weiterführende Blogartikel zum Thema:
Unterschiedliche Armutsquoten in den Bundesländern – erfreuliche Zahlen für Sachsen
Die Armutsquoten unterscheiden sich deutlich zwischen den Bundesländern, wie die folgende Grafik zeigt. Die höchste Armutsquote weist der Stadtstaat Bremen mit 29,1 Prozent auf. Die zweithöchste Quote hat Nordrhein-Westfalen mit 19,7 Prozent. Hier zeigt sich, dass es innerhalb der Bundesländer besonders problematische Armutsregionen gibt wie das Ruhrgebiet mit einer exorbitant hohen Armutsquote von 22,1 Prozent.
Grafik: Der Paritätische Gesamtverband, Armutsbericht 2024
In Sachsen liegt die Armutsquote bei 16,7 Prozent. Das ist der zweitniedrigste Wert seit 2006. Nur 2018 wurde mit einer Quote von 16,6 Prozent ein noch niedrigerer Wert erreicht. Am stärksten von Armut betroffen ist Westsachsen mit einer Quote von 18 Prozent. In Südsachsen lag der Anteil einkommensarmer Menschen bei 16 Prozent und damit am niedrigsten im Freistaat.
Auch im Vergleich der Bundesländer steht Sachsen gut da. Hier liegt der Freistaat sogar vor dem Bundesdurchschnitt. Dem Bericht zufolge ist die Armutsquote nur in Bayern (12,6 Prozent), Baden-Württemberg (13,5 Prozent) und Brandenburg (14,2 Prozent) niedriger.
Auch im Vergleich der Bundesländer steht Sachsen gut da. Hier liegt der Freistaat sogar vor dem Bundesdurchschnitt. Dem Bericht zufolge ist die Armutsquote nur in Bayern (12,6 Prozent), Baden-Württemberg (13,5 Prozent) und Brandenburg (14,2 Prozent) niedriger.
Auch wenn die Armutsquote in Sachsen - zumindest im Ranking und in der Tendenz - erfreulich ist, bleibt Kinder- und Jugendarmut auch im Freistaat ein großes Problem. Jedes fünfte Kind und jeder dritte junge Erwachsene ist armutsgefährdet. Das geht aus einer Analyse der Bertelsmann Stiftung hervor, wie sächsische.de schreibt.
Armut beenden und Armut vorbeugen
Politische Agenda
"Absolute Armut, die mitunter existenzbedrohend ist, ist nicht vergleichbar mit der Situation von Menschen mit niedrigem Einkommen in Deutschland. Beide Formen der Armut müssen jedoch bekämpft werden", schreibt die Bundesregierung auf ihrer Website. Ziel der Bundesregierung sei es, arme Menschen so gut es geht zu unterstützen … hierzulande sollte niemand über einen längeren Zeitraum mit so geringen Mitteln leben müssen.
Auch die internationale Staatengemeinschaft hat sich mit der Agenda 2030 das ehrgeizige Ziel gesetzt, Armut in allen ihren Formen und überall zu beenden.
Das sind die Maßnahmen, die der Paritätische Gesamtverband für eine wirkungsvolle Armutspolitik vorschlägt:
- Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro,
- eine einkommens- und bedarfsorientierte Kindergrundsicherung,
- eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung mit armutsfester Mindestrente,
- Anhebung des Rentenniveaus und Umbau zur Bürgerversicherung,
- eine solidarische Pflegevollversicherung,
- eine konsequente Mietpreisdämpfungspolitik
Einkommensverlust als Armutsrisiko
Zwar wird Einkommensarmut von Experten nicht als individuelles, sondern als strukturelles Problem mit vielfältigen Einflussfaktoren gesehen. Lebensereignisse wie Arbeitsplatzverlust, Scheidung und Krankheit können jedoch in eine Armutserfahrung führen.
Individuelle Armutsrisiken bestehen unter anderem dann, wenn ein ausreichendes Einkommen aus abhängiger Beschäftigung oder selbständiger Tätigkeit zum Beispiel durch Krankheit längerfristig wegfällt. Inwieweit dies "nur" zu Einschnitten im Lebensstandard oder langfristig zu Armut führt, hängt vom Einzelfall ab. Gleiches gilt für Lebensereignisse wie Arbeitsplatzverlust oder Scheidung. Private Versicherungen wie eine Berufsunfähigkeits- oder Unfallversicherung schließen hier die Versorgungslücke zu den gesetzlichen Sozialleistungen.
Fazit:
Armut ist auch in einem reichen Land wie Deutschland ein vielschichtiges Phänomen. Denn sie beziffert nicht nur einen Mangel an verfügbaren Ressourcen wie Geld. Sie geht auch mit einem Mangel an Chancen zum Beispiel für Bildung und an sozialer, kultureller und gesundheitlicher Teilhabe einher. Was Armut ist und wie sie gezielt bekämpft werden kann, wird in Politik und Gesellschaft immer wieder kontrovers diskutiert, nicht zuletzt unter dem Vorzeichen einer angespannten Haushaltslage. Jüngste Beispiele sind die Kindergrundsicherung zur Bekämpfung der Kinderarmut und die zahlreichen Diskussionen zur Altersarmut.
Schreiben Sie einen Kommentar
Forum
Diskutieren Sie über diesen Artikel
Nutzername
Noch keine Kommentare vorhanden.